Predigt in der Friedensvesper

"Ihr seid das Salz der Erde."

 

 

St. Lamberti Münster, 24.10.2019


Ich stehe vor einer alten Wellblechwand in Thorpe Abbots, liebe Schwestern und Brüder – mitten in Norfolk/England in den heißen Sommertagen Anfang August dieses Jahres. Die Wand gehört zu einem Memorial, das an eine US-Airforce Base an diesem Ort erinnert. 70 amerikanische Bomber waren hier im Zweiten Weltkrieg stationiert, von hier flogen sie über den Kanal nach Deutschland, um ihre tödliche Fracht abzuladen. Ich stehe bewusst an diesem Ort, weil ich mich mit der Geschichte beschäftigen möchte. Aber vor dieser alten Wellblechwand in Thorpe Abbots haut es mich fast um. Denn mit roter Farbe haben die Piloten auf die Wand ihrer Nissenhütte die Ziele ihrer Einsätze gepinselt. Und die lange Liste beginnt mit 1. Osnabrück, 2. Köln, 3. Münster.

 

Plötzlich ist alles ganz nah. Da werden meine Knie weich, und ich fühle mich mittendrin im Wahnsinn des Krieges, der viele Verlierer produziert – allen Heldengedenken zum Trotz. Schwarz-weiße Bilder vom zerstörten Prinzipalmarkt (in Münster) lassen ebenso wenig Zweifel aufkommen wie Fotos von abgeschossenen Bombern. Sehr nachdenklich verlasse ich das Memorial und bin zurück in der Gegenwart, die so viele Kriegstreiber und Attentäter nach oben spült wie lange nicht mehr. Staatschefs drohen über die sozialen Medien, andere greifen zum Mikrofon und marschieren sogleich in ein Nachbarland ein; drohen unverhohlen der Staatengemeinschaft, die zusieht und immer ohnmächtiger wird. All das geschieht, als hätte es den Aufbruch vor 30 Jahren nicht gegeben – das Hoffen auf eine friedliche Zukunft nach den erfolgreichen gewaltfreien friedlichen Demonstrationen in der DDR, die zum Fall der Berliner Mauer führten. Mir scheint, als sei es wieder in hohem Maße gewöhnliches politisches Kalkül, Kriege zu führen und Leid und Tod über Zehntausende zu bringen. Oder als sei es eben gestattet, Menschen wahllos zu töten, die sich zum Beten versammeln, nur weil sie einer bestimmten Religion angehören.

 

Deshalb an diesem Friedenstag die Frage: Können wir angesichts dieser Entwicklungen etwas tun? Müssen wir gar etwas tun? Das biblische Wort aus dem 5. Kapitel des Matthäusevangeliums, das wir eben gehört haben, weist uns einen Weg. Es beginnt damit, dass Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern auf dem berühmten Berg in Galiläa sitzt. Gerade hat er von den benachteiligten Menschen im Leben gesprochen und sie selig gepriesen – die Hungernden, die Verfolgten, die Friedfertigen. Und die Jünger, die an seinen Lippen hängen, nicken bedeutungsschwer ihre Köpfe: „Recht hat er! Und wie immer denkt er an diejenigen, für die es nicht leicht ist im Alltag.“ Sie schauen sich gegenseitig an. Ja, so kennen sie Jesus und das schätzen sie an ihm. Das ist einer der Gründe, weshalb sie mit ihm auf dem Weg sind – durch das staubige Galiläa. Doch just in diesem Moment wendet sich das Blatt: Jesus sagt all denen, die um ihn herum sitzen, auf den Kopf zu „Ihr seid das Salz der Erde!“

 

Vermutlich schaut er dabei zunächst in ratlose Gesichter, denn sogleich erschließt sich dieser Satz nicht. Salz für die Erde sind sie, die sich da versammelt haben, also so wichtig für die Erde wie das Salz in der Suppe – notwendig, unersetzlich, würzig. Klar, das kennt jeder, die gewürzte Suppe. Und jeder weiß auch, wie fade eine Suppe ohne Salz sein kann. Mit anderen Worten: Christinnen und Christen haben etwas Wesentliches beizutragen zum gemeinschaftlichen Leben auf dieser Erde. Und ohne wäre es fade hier. Was für ein Zuspruch und was für ein Zutrauen! Nur wenige Worte später wird deutlich, was Jesus damit verbindet: „Die Leute sollen eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen!“

Unser Glaube, liebe Schwestern und Brüder, soll Folgen haben, soll sich auswirken im Alltag, soll Zeuge sein für unser Gottvertrauen – und es geht hier nicht um einen besonderen Kreis der Eingeschworenen oder Amtsträger, sondern um uns alle, die wir betont gemeinsam unterwegs sind. Was für ein Wegweiser ist dabei die Bergpredigt mit ihren herausfordernden Passagen über das Vergelten, die Gewalt, die Feindesliebe! Das ist nicht alt und verstaubt, das ist ganz und gar nicht überholt, sondern mitten hinein gesprochen in unsere kriegstreibende Welt, in der der Ausstieg aus dem Teufelskreis der Gewalt so unendlich schwer zu sein scheint. Wir müssen diese Überzeugungen wieder laut und klar in die Gesellschaft einsprechen, denn von selbst versteht sich hier gar nichts mehr. Vor wenigen Wochen erschien in einer großen Osnabrücker Tageszeitung ein langes Interview mit einem Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs in Osnabrück. Als ich ihn wenige Tage später traf, gratulierte ich ihm und sagte: „Das war sehr eindrücklich, was sie da gesagt haben, es hat mir die Zeit und die Nöte sehr nahe gebracht.“ Er erwiderte: „Ja, die haben mich drei Stunden befragt, das war auch für mich sehr interessant. Über eine Sache habe ich mich allerdings geärgert. Als die Journalisten mich fragten, was meine grundlegenden Werte im Leben seien, habe ich geantwortet: Die Zehn Gebote und die Bergpredigt. Aber das haben sie nicht gedruckt!“

 

Ich nehme das als Ansporn für unser christliches Handeln in der Welt. Wir sind gefordert. So ist der Satz Jesu „Ihr seid das Salz der Erde“ denn auch nicht nur Zuspruch, sondern Herausforderung. Indikativ und Imperativ sind nicht zu trennen, das vorangestellte „Ihr“ macht das sehr deutlich. Ich zähle auf Euch, und ich rechne auch fest mit Euch – das sagt Jesus auf dem Berg den versammelten Menschen auf den Kopf zu. Kein leichtes Erbe, denn wir können nicht die Hände in den Schoß legen und andere machen lassen. Wir müssen ran, uns für den Frieden stark machen. Erinnerungstage wie dieser – mit dem weiten Blick auf den Westfälischen Friedensschluss vor 371 Jahren just an dieser Stelle hier nebenan können uns dessen wieder versichern. Sind zugleich Zuspruch und Herausforderung. Gerne zitiere ich aus dem Instrumentum Pacis Osnabrugensis vom 25. Oktober 1648:

 

„Es soll dieser [Friede] aufrichtig und ernstlich eingehalten und beachtet werden, auf dass jeder Teil Nutzen, Ehre und Vorteil des anderen fördere und dass [...] treue Nachbarschaft, wahrer Friede und echte Freundschaft neu erwachsen und erblühen möge."

 

Zurück zum Salz der Erde. Das von Jesus gewählte Bild des Salzes birgt noch drei interessante Aspekte. Den ersten hat man sogleich auf der Zunge, wenn man über das Salz in der Suppe nachdenkt: Wie schnell kann eine Speise auch versalzen sein! Zuviel des Guten. Mal wieder übertrieben. Und dann verzieht man schmerzlich das Gesicht, möchte die Suppe am liebsten wieder loswerden. Auf unser Friedensengagement übertragen kann uns dieses davor bewahren, zu viel Aktionismus walten zu lassen. Das rechte Maß behalten bedeutet eben auch, genau wahrzunehmen, wieviel man von sich und anderen verlangt und wo die Grenze dessen ist, was man erwarten kann. Friedensarbeit ist beileibe kein einfaches Geschäft, und hier wie da kommt es auf die Dosis an.

Würzen und Versalzen kann man also mit dem weißen Gold, aber es ist noch zu mehr nütze: zum Konservieren und Bewahren. Wenn wir also Salz der Welt sein wollen, dann geht es auch darum, Frieden zu bewahren und ihn nicht wieder aufs Spiel zu setzen. Das ist die große Herausforderung unserer Tage, und sie ist mir besonders eindrücklich vor Augen gewesen im Memorial von Thorpe Abbots in diesem Sommer. Die alte Wellblechwand mit den rot gepinselten Städtenamen mahnt uns, den seit 74 Jahren währenden Frieden in Europa nicht wieder aufs Spiel zu setzen, sondern weiter zu machen mit all dem Schüleraustausch, den Städtepartnerschaften und den konkreten Begegnungen von Menschen aus den unterschiedlichsten Staaten. Nur wenn wir uns tief in die Augen sehen und zueinander sprechen, können wir die Mauern überwinden, die so manch einer dieser Tage wieder aufbaut; dann können wir die Grenzen offen halten, die einige wieder verschließen wollen, weil sie sich selbst genug sind. Wir Christinnen und Christen sind Weltbürger, und unsere Heimat ist im Himmel – wie der Apostel Paulus es eindringlich formuliert hat. Von Beginn an gab es keine Grenzen innerhalb der christlichen Gemeinschaft, also lasst uns auch keine neuen Grenzen ziehen oder ins Schneckenhaus zurückkriechen. Erhobenen Hauptes können und sollen wir eintreten für ein menschliches Miteinander auf dieser Welt, die bekanntlich dort beginnt, wo wir leben und arbeiten, wo wir feiern und beten, wo wir singen und streiten.

 

Ein letztes, liebe Schwestern und Brüder. Es führt in meinen Heimatort, nicht weit entfernt von hier – Bad Rothenfelde. Ich habe dort schwimmen gelernt im alten Freibad neben dem damals noch existierenden Salzwerk. Und das war kinderleicht, denn das Solewasser das trug ein bisschen mehr als das normalerweise anzutreffende Badewasser. Ich merkte das erst, als ich Schulschwimmen im Hallenbad in Dissen hatte und plötzlich dachte: Geht doch deutlich schwerer hier. Salz im Wasser kann tragen, bisweilen sogar so, dass man kaum noch untergehen kann – wer schon einmal im Toten Meer gebadet hat, der weiß das nur zu genau. Für mich bedeutet das: Wenn wir das Salz der Erde sind, dann haben wir genau diese tragende Rolle in der Gesellschaft, das ist nicht wenig, aber auch nicht zuviel.

 

Amen.


Superintendent Dr. Joachim Jeska, Osnabrück